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Reiser, Rio

7 (1999)

Wenn man die Geschichte des Künstlers Rio Reiser aufschreiben möchte, muß man früh anfangen, ja sogar vor seiner Geburt beginnen. Durch kunstbeflissene Eltern, die passioniert im Kirchenchor sangen, floß schon eine gehörige Portion Musik im Blut des Jungen, der am 9. Januar 1950 in Berlin, an einem kalten, klaren Wintertag als jüngster von drei Brüdern das Licht der Welt erblickte und Ralph Christian Möbius getauft wurde.Wie die Geschichte weitergeht, kann und soll hier nicht detailliert erzählt werden, denn das hat der Hauptdarsteller, Rio Reiser, selbst bereits vortrefflich getan: In seiner 1994 erschienenen Autobiographie (siehe Literatur).

Doch der Solokünstler Rio Reiser konnte nur entstehen durch das, was vorher war. Musikalisch angefangen hat der Werdegang in Nürnberg (eine von vielen Reiserstationen) mit einem obsessiven Kindheitserlebnis mit der "Ben Hur"-Filmmusik von Miklos Rosza und der rauschenden Entdeckung des Klaviers als Zwölfjähriger. Klein-Möbius lernte schnell, Lieder nur nach dem Gehör nachzuspielen und zu improvisieren. Der Klavierunterricht brachte dagegen nicht die gewünschten Effekte. Ein Jahr später brachte er sich selbst mit Hilfe einer Grifftabelle das Gitarrespielen bei. Mit 15 Jahren bekam Ralph "im Rahmen einer intergalaktischen Jugendweihe" von dem Maler Blalla W. Hallmann den Vornamen Rio. Wenn schon nicht konfirmiert, so doch wenigstens geweiht ... Nachdem er die Schule und eine Fotografenlehre abgebrochen hatte, besuchte er das Offenbacher Konservatorium und lernte Cello, das er später auch schon mal live auf der Bühne spielte (z. B. im Mai 1986 in der ZDF-Rockpop-Musichall am Ende des Songs "Junimond").

Im Januar 1966 lernte er im Alter von 16 Jahren in Niederroden (Hessen) den gleichaltrigen Lanrue kennen, der damals noch Ralph Peter Steitz hieß und Schlagzeuger der Band "Beatkinks" war, zu der Rio bald als Sänger kam. Man spielte vor allem Songs der Vorbilder Beatles und Rolling Stones nach. So geschult folgte er seinen älteren Brüdern nach Berlin, wo die Gebrüder Möbius - nun komplett - an der wahrscheinlich ersten Beat-Oper der Welt arbeiteten. Der siebzehn Jahre junge Rio schrieb die Musik zu "Robinson 2000", das am 2. Juni 1967 im Theater des Westens in Berlin uraufgeführt wurde.

1968 wurde Rio Hauskomponist der Berliner Theatergruppe "Hoffmanns Comic Teater", die seine Brüder gegründet hatte. Dort spielte er auch eifrig mit, wie bei dem Stück "Rita und Paul" im Auftrag der Experimenta 1969. Ein Song aus diesem Masken- und Rollenspiel mit dem alternierenden Konzept von Song und Szene hieß "Macht kaputt, was Euch kaputt macht", der später zum Kampf-Motto Teile ganzer Generationen werden sollte.

Rio aber fühlte sich beim Theater nicht richtig aufgehoben, sein großer Traum und seine wahre Ambition war es, eine Band gründen und Rockmusik mit deutschen Texten machen. So tat er sich im Sommer 1970 mit seinem Freund Lanrue, der mittlerweile Gitarre spielte, Kai Sichtermann, dem Rio flugs das Bassspielen beibrachte, und dem Schlagzeuger Wolfgang Seidel zusammen, und in einer gemeinschaftlichen Sitzung einigte man sich auf den Bandnamen "Ton Steine Scherben", später liebevoll "Die Scherben" genannt.

Den ersten Live-Auftritt hatten sie dann noch im selben Jahr bei dem sagenumwobenen (Jimi Hendrix letzter Auftritt!) "Festival der Liebe" auf Fehmarn im September 1970. Die Kieler Veranstalter brannten mit der Kasse durch, und Rio war sich nicht zu schade, den mittlerweile legendären Satz "Man sollte den Veranstalter ungespitzt in den Boden hauen" ins Mikro zu rufen. Dann spielte die Band "Macht kaputt, was Euch kaputt macht", die allererste und richtungsweisende Scherben-Single. Später brannte die Festival-Bühne, noch später erstrahlte ein Feuer am deutschen Rockmusik-Himmel. 1971 kam die erste Scherben-LP "Warum geht es mir so dreckig?" heraus, die noch über linke Buchläden vertrieben wurde. Das neue und besondere war, daß sie unter dem eigenen Label "David Volksmund" erschien.

1972 erschien das bekannteste, beliebteste und bedeutungsvollste Scherben-Album "Keine Macht für Niemand", das eigentlich keiner Worte bedarf. Ein jeder Rockfan wird es in seinem Plattenschrank haben. Titel wie "Der Traum ist aus", "Rauch-Haus-Song" oder "Keine Macht für Niemand" gingen in die Zeitgeschichte ein. Da fand sich jenes Lebensgefühl, das eine ganze Generation prägte, eine Utopie, wie sie der Jugend gefiel, an die sie glauben konnte. "Denn für Ton Steine Scherben und später Rio Reiser haben die Kids & alten Traumkämpfer doch nicht geschwärmt, weil die Jungs da oben auf der Bühne aber sooo was von süß waren, sondern doch weil die Songs und Inhalte etwas mit der realen, konkreten Lebenssituation zu tun hatten, Hoffnung & Mut machten.", so ein Zeitzeuge. Alle Songs auf der LP wurden von Rio getextet und von Lanrue komponiert, und das sollte bis auf wenige Ausnahmen auch die nächsten Jahre so bleiben. Rio Reiser war als Sänger von Ton Steine Scherben mit der Erste, der Rockmusik in deutscher Sprache sang! Das Multitalent spielte auch Gitarre und Keyboards, sowohl im Studio als auch live auf der Bühne.

Anfang Januar 1974 übernahm Funky K. Götzner die zuvor wechselnde Schlagzeugerrolle und füllte sie mehr als 10 Jahre in bester Manier aus. Ein Jahr später zogen die Bandmitglieder und ein Teil des großen Freundeskreises von Berlin nach Nordfriesland, wo sie sich in dem verschlafenen Kaff Fresenhagen ein altes Bauernhaus auf- und einrichteten. Zuvor erschien das dritte Album "Wenn die Nacht am tiefsten" mit starken Songs wie "Land in Sicht" oder "Halt Dich an Deiner Liebe fest".
Es folgten zwei Tourneen, bei denen die Band merkte, daß sie für das Publikum immer mehr zu einer politischen Musikbox wurde. Speziell Rio als Texter, Sänger und Frontman hatte seine Probleme damit, und er wünschte sich manchmal, gewisse Songs nie geschrieben zu haben. Bei Auftritten flogen Bierdosen oder Toilettenpapier auf die Bühne, wenn die Revoluzzer-Songs nicht gespielt wurden. Selbst wenn sich die Band dazu hergab, grölte das Publikum immer weiter, während schon längst andere Stücke gespielt wurden.

Die Scherben hatten sich in ihrem Haus ein eigenes Tonstudio aufgebaut, wo sie ab 1976 an Auftragsarbeiten werkelten. Rio hatte die Musik für zwei Kinderhörspiele (mit "Rote Rübe") komponiert, sowie zu drei Kindertheaterstücken ("Martha die letzte Wandertaube", "Feuerzirkus" und "Struwwelpeter Revue"). Oft und immer wieder schrieb er Schauspielmusiken, zum Beispiel zu "Moritz Tassow" am TAT (Theater am Turm) in Frankfurt.

Nach fünf Jahren entschlossen sich Rio, Lanrue, Funky und Kai, die Scherben wieder aufleben zu lassen und eine neue LP einzuspielen. Die "IV" - auch "Die Schwarze" genannt - erschien 1981 und bestand aus zwei prallgefüllten Scheiben mit skurrilen, phantasievollen Songs. Dieses Album war und ist einmalig in der deutschen Musikszene, und einige Rezensoren ließen sich gar dazu hinreisern, es "New Wave" zu nennen. Der Titel "Jenseits von Eden" blieb für Rio all die Jahre ein Meilenstein. Eine nette Besonderheit aller Scherbenplatten war eine regelmäßige Hommage an die beiden Inspirationsquellen Bibel und Karl May. So finden sich auf jedem Album neben Songs mit politischen oder gesellschaftskritischen Aussagen auch immer Songs mit christlichen Themen.

1981 ereignete es sich auch, daß Rio Reiser musikalisch und schauspielerisch bei dem Theaterstück "Märzstürme" von Hoffmanns Comic Teater in Unna mitwirkte. In einer Befreiungszene sang er erstmals das ursprüngliche Revolutionslied (!) "Auf einem Baum ein Kuckuck saß" von 1848.

Im Jahr 1982 war es, als der Mann mit dem alliterierendem Künstlernamen in dem Dokumentarfilm "Halt Dich an Deiner Liebe fest" die Parabel vom Pudding im Kühlschrank erzählte (frei nach Wolfgang Neuss), die sehr bezeichnend für sein Leben ist: "Wenn Du an den Kühlschrank gehen möchtest, weil Du weißt, da ist noch ein Pudding, dann bist Du vielleicht stolz, daß Pudding im Kühlschrank ist, Du ihn aber nicht ißt. Wenn aber gar kein Pudding im Kühlschrank ist, ist es keine Leistung, auf ihn zu verzichten. Ich könnte die Leistung gar nicht bringen, weil ich keinen Pudding im Kühlschrank habe, aber auch nicht drauf verzichten kann. Hm, was machen wir denn da?" Armer Rio Ohnepudding ...

Ein sehr wichtiges Jahr, speziell für Rio Reiser, war 1983. Ton Steine Scherben (mit Neumitglied Martin Paul an den Tasten) brachten ihr fünftes Studioalbum heraus, das schon eine gewisse poppige Färbung zeigte. Gemeinsam mit der deutschen Rockgruppe Schroeder Roadshow und dem Clown Eisi Gulp ging die Band auf eine Tournee, die von Fritz Rau organisiert wurde. So "väterlich", wie das in der Legende oft darstellt wird, war die Beziehung allerdings nicht. Rau fand erst durch die Überredungskunst eines Hamburger Musikers den Weg zum Scherben-Haus in Fresenhagen. Die Auftritte und der Touralltag wurden in dem Dokumentarfilm "Allein machen sie Dich ein" (auch unter "Heut' nacht oder nie" bekannt) festgehalten.

Gleichzeitig arbeitete Rio - nicht zum ersten Mal - für andere Künstler: So hatte er zum Beispiel englische Texte seines Hamburger Kollegen Wolfgang Michels ins Deutsche übersetzt, was ein enormes Vertrauen voraussetzt, welches Michels nur Reiser gegenüber hatte. Die beiden schrieben zusammen an die zwanzig Songs, doch diese Künstlerfreundschaft führte auch zu Neidern der unterschiedlichsten Art.
Am Ende des Jahres trat Rio dann erstmals solo auf, allein am Flügel. Es war ein denkwürdiges Konzert in der Hamburger Kampnagel-Fabrik, bei dem er keine Scherben-Songs spielte, sondern Lieder von Hans Albers und Marlene Dietrich, Rolling Stones und Chuck Willis, Wolfgang Michels und eigene Kompositionen. Schon hier zeigte sich die beachtliche Vielseitigkeit des Rio Reiser und seine musikalische Stärke.

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Anete Humpe, die Rio aus alten WG-Tagen und noch vor "Ideal"-Zeiten kannte, auf ihn zukam und im Frühjahr 1984 die erste Solo-Single mit Rio Reiser produzierte. Sie hieß "Dr. Sommer", was sich weniger auf den bravorösen Pseudo-Sexperten bezog, sondern auf die Jahreszeit, vielleicht auch einfach nur eine Sehnsucht nach Wärme beschrieb. Aus heutiger Sicht ist dieser Song ein typischer Reiser, doch zur damaligen Zeit wurde ihm die "Wandlung" vom Polit-Rocker zum Pop-Softie nicht abgenommen, doch Rio wollte diesen Song, weil es ihm so gefiel.

Die hartgesottenen Scherben-Fans schienen ihm diesen scheinbaren Fehltritt noch einmal zu verzeihen, denn als die Band im gleichen Jahr ihre letzten Live-Konzerte gab - zum Schluß sieben mal in Berlin - war die Zu-Stimmung im Publikum überwältigend, auch wenn man nach Verantwortung von Band & Fans fragen mußte, da Rio die Kerze an beiden Enden anzündete, das fatale Feuer hieß Cortison.
1984 entstanden bereits Demos von "Alles Lüge" (als Reggae-Version), "Junimond", "Laß mich los" oder "Runter zum Hafen". Und es gab Verhandlungen mit der Plattenfirma WEA, welche die Scherben gerne unter Vertrag nehmen wollte. Der fertige und unterschriebene Vertrag wurde kurzerhand zerrissen.

Ein Jahr später, 1985, trennten sich Ton Steine Scherben nach 15 Jahren in gegenseitigem Einvernehmen. Sie hinterließen der Nachwelt ein Lebensgefühl und sich selbst einen finanziellen Scherbenhaufen, Schulden mit vielen Nullen vor dem Komma. Tja, nicht in jeder Beziehung bringen Scherben Glück, auch Unabhängigkeit hat ihren Preis.

Rio arbeitete erstmal wieder mit Wolfgang Michels zusammen, und sang auf dessen Album "Bei Mondschein" die Backing Vocals, erstmalig (für einen anderen Interpreten) und unverkennbar. Es war und ist nicht selbstverständlich, daß ein professioneller Musiker von Rios Format einen Kollegen unterstützt, sich mal eben ans Klavier setzt, hier und da die Gitarre schwingt und für mehr als einen Song wunderbare Chöre einspielt. Rio war auch Co-Produzent und Co-Texter bei diesem Album.

So sehr Rio diese Kooperation auch mochte, er brauchte Geld. Er fühlte sich verantwortlich für die Schulden der Band, verantwortlich auch seinem Beruf gegenüber. Während die restlichen Scherben-Mitglieder in eigenen oder anderen Projekten weiter Musik gemacht haben und fünf Jahre lang auf ihre Tantiemen verzichteten, holte sich Rio einen Vorschuß von seiner neuen Plattenfirma CBS (später Sony). Er konnte "eine Platte machen, die mir gefällt", ohne Zensur. Ob er sich dabei verkauft oder prostituiert hat, vermag man von außen nicht zu beurteilen.

1986 wurde für Rio Reisers Solokarriere das musikalisch erfolgreichste Jahr. Mit "Rio I." erschien sein erstes Solo-Album, auf dem so branchenbekannte Namen wie Peter Weihe (Gitarre) und Curt Cress (Schlagzeug) auftauchten.

Die erste Single-Auskopplung "Alles Lüge" (5/86) war und wurde ein Gassenhauer, wie ihn Rio liebte, auch ein geflügeltes Wort, bis heute. Der Titel wurde bereits 1977 geschrieben und gespielt für den SPD-Wahlkampf. Eine sehr treffende Promotion lieferte Rio nun in Form einer erfundenen Biographie, unter die er schrieb, daß sein damals aktueller Titel "Alles Lüge" hieß. Die Öffentlichkeit schaute blind in den ihr vorgehaltenen Spiegel. Bis auf den heutigen Tag wird aus dieser phantasievoll ausgedachten Biographie ganz ernsthaft zitiert. Dieser Song ist ein ebenso typischer Reiser- wie auch Scherben-Song, und die nächste Scherben-LP, wenn es sie denn gegeben hätte, sollte - na? genau! - "Alles Lüge" heißen.

Die nächste Single war "Junimond" (8/86), eigentlich kein Liebeslied, wie oft angekündigt, sondern ein trotzig-trauriges Lied über das Ende einer Liebe, gesungen mit einer sympathischen Schnoddrigkeit. Auch hier gab es keinen großen Bruch zur musikalischen Vorgeschichte, denn Balladen hatten Ton Steine Scherben auch - und durchaus erfolgreich - intoniert.

Genauso war die dritte Single-Auskopplung "König von Deutschland" (10/86) ein alter Song von 1976 (laut "Sound Check 1/87"). Er wurde nur aktualisiert und ein bißchen poppiger gemacht. Dieser Titel wurde Rio Reisers größter Hit. Auch wenn ihm die Rolle gefiel und er sie tief verinnerlicht hatte, Fans und Medien reduzierten ihn darauf. Leider, denn Rio hat ja auch andere Songs geschrieben als nur diesen, gute, bessere, viel bessere. Pressevertreter fragten trotzdem immer wieder nach ersten Amtshandlungen als König, aber niemand fragte, warum er nicht Kanzler von Deutschland werden wollte. Rio hatte sich sehr bewußt für den König entschieden, denn es sollte ein modernes, gesellschaftskritisches Märchen sein. Ein Märchen für das Volk, denn jeder, der dieses Lied (mit-)singt, macht sich selbst mit den Worten "Wenn ich König von Deutschland wär" ein Lied lang zum augenzwinkernden Schneekönig. Natürlich wollte Rio nie König sein, sondern "entweder alle oder keiner, oder jeden Tag 'n anderer" war seine Devise. Es war also 1986 die gleiche Moral wie zehn Jahre zuvor, aber es erreichte nicht mehr nur eine eingeschworene Fangemeinde, sondern ein Massenpublikum, was erstgenannte kritisierte.

Bei dem Angriffspunkt, daß Rio Reisers Solo-Platten zu seicht seien, muß man einfach berücksichtigen, daß man Mitte der 1980er Jahre nun mal andere Instrumente benutzte als 1972, und daß auch mit moderneren technischen Möglichkeiten produziert wurde. Es war die Spätzeit des Punk, und viele waren "enttäuscht, ja regelrecht entsetzt über den glattgebügelten phantasielosen Sound seiner Platten", so ein Zeitzeuge. Was blieb, und das ist wirklich wesentlich, waren Rios Texte und sein Gesang, der die Glätte der Musik aufrauhte, Ecken und Kanten bot, auch schon mal bewußt dreckig klang. Rios musikalisches Talent lag uneingeschränkt in der Stimm- und Meldodieführung.
Sein Timbre, diese unvergleichbare Stimme war es auch, die das Liebeslied "Für immer und Dich" (11/86) zu einem ganz besonderen Stück machten. In nur fünf Minuten finden sich Kraft und Schwäche, Zärtlichkeit und Wut, und mit seiner wandelbaren Stimme unterstrich er - besonders bei diesem Lied - immer die Aussage des Textes. Es war genau diese Intensität, die Rio Reisers Gesang ausmachte und damit eine Qualität ohne Maßstab war.

Immerhin muß er gewissen Menschen so imponiert haben, daß sie den barfüßigen Barden im Alter von 36 Jahren und nach 15 Jahren als Frontman einer Rockband, zum Newcomer des Jahres wählten. Alle Achtung! Apropos barfuß: Rio Reiser hatte sich irgendwann entschlossen aus Gründen der Erdverbundenheit und als Markenzeichen, eine Alltagsangewohnheit auf die Bühne zu übertragen, indem er immer barfuß auftrat.
So auch bei seiner ersten Deutschland-Tournee als Solist im September und Oktober 1986. Bei der Zusammenstellung seiner Live-Band griff Rio auf bewährte Scherben-Musiker wie R.P.S Lanrue (Gitarre) und Martin Paul (Keyboards) zurück. Die Bühnenmannschaft komplettierten Jochen Hansen (Bass), Sievert Johannsen (Gitarre) und Toni Nissl (Schlagzeug).Im Juli '86 beteiligte Rio sich an einem Anti-AKW-Allstars-Konzert in Burglengenfeld, wo er am Ende des ersten Tages eines seiner Lieblingslieder sang, so krächzend und sanft zugleich, wie man es nie wieder hören wird: "Somewhere over the rainbow", solo am Klavier.

Im darauffolgenden Jahr, 1987, war es schwer, den Erwartungen von Publikum und Kritikern gerecht zu werden. Man hatte eine Schublade aufgemacht und den falsch verstandenen "König von Deutschland" hineingetan. Nun sollten viele kleine Monarchenkinder folgen.
Die Single "Blinder Passagier" (8/87) wurde denn auch ein passabler Nachfolger, der König ein Kapitän und Deutschland ein sinkendes Schiff. Daß es dennoch kein reines Seemannslied war, blieb vielen Hörern verborgen, aber das Video zeigte alles (war und ist im kommerziellen TV verboten). Trotzdem war die Seefahrt das beherrschende Thema von Rio Reisers zweitem Solo-Album "Blinder Passagier", weil es für ihn schon immer ein reizvolles Bild war, das Leben als Seefahrt zu betrachten.

Die zweite Single-Auskopplung der LP hieß "Manager" (1/88) und folgte stilistisch der Gassenhauer-Linie. Rios Beraterteam aus Freunden und dem Manager höchstpersönlich hatten ihm von diesem Titel abgeraten, zumal er "so viele wunderbare andere Demos für seine zweite Platte" hatte, wie ein Berater von damals verriet. Doch Trotzkopf Rio wollte den Song nun erst recht und glaubte auch an ihn. Der Song war genauso ironisch und witzig wie der König ein Jahr zuvor und wurde genauso mißinterpretiert. Noch Jahre später muß man vom "Loblied" oder der "Hymne" lesen. Nein, genau das war es nicht. Auch wenn Rio mit seinem Manager George Glück (huch, noch eine Alliteration) gut auskam, so ist doch die wichtigste Zeile in dem Lied: "Und rat mal, wer wohl so 'ne Texte schreibt - Mein Manager erledigt das für mich".

Gerade diese Irrungen und Wirrungen waren es doch, die Reisers Texte von anderen abhoben. Er hatte bereits als kleiner Junge eine Zeitung namens "Quetzacoatl" herausgegeben, in der er seine Liebe für Wortspiele auslebte. Und in einem Interview im Hessischen Rundfunk begründete er 1987, warum er seine Lieder nicht auch in Englisch schreibt und singt: "Ich kenne die Feinheiten der Sprache überhaupt nicht, und in Deutsch kann ich das machen. In Deutsch kann ich auch meine kleinen, dummen Wortspiele machen." Rio Reisers Sprache war feinsinnig und methaphernreich. Es reizte ihn auch, Worte zu verwenden, die keine Assoziationen hervorrufen und dennoch zur deutschen Sprache gehören.
Rio war ständig dabei, Worte, Phrasen und Sätze zu notieren und zu sammeln. Wenn ihm irgendwo etwas Widersprüchliches auffiel, zückte er seinen Bleistift und schrieb es auf. Er hatte stapelweise lose Blattsammlungen und Notizbücher. Manchmal staunte er Jahre später über den Blödsinn, den er da festgehalten hatte oder wunderte sich, warum er es aufgeschrieben hatte, aber meistens setzte er die vielen Notizen irgendwann in Songtexte um. So vielleicht auch in der zweiten Single-Auskopplung "Ich denk an Dich".

Es gab natürlich auch Lieder mit einer klaren, einfachen Sprache. Ein Beispiel auf der LP "Blinder Passagier" ist das allerletzte Stück "Stiller Raum", ein angebliches Weihnachtslied, das man aber auch an den restlichen Tagen im Jahr hören kann, denn es geht gnadenlos unter die Gänsehaut.
Überhaupt hat Rio viel mehr Liebeslieder als politische Rocksongs geschrieben. Komischerweise, oder aufgrund seiner Vergangenheit, wurde immer eher versucht, in den Liebesliedern politische Aussagen zu finden als umgekehrt. Aber es gibt ja auch Menschen, die vertreten glaubhaft die Meinung, alle Rocksongs seien Liebeslieder, mit der Schlußfolgerung: Liebeslieder sind Rocksongs, und Liebeslieder sind politisch.
Dennoch hat es Rio Reiser gestört, daß er bis zum Schluß auf Kampflieder der 1970er Jahre angesprochen wurde und zwanzig Jahre später nach deren Bedeutung befragt wurde. Er haßte es sowieso, als Künstler seine Werke erklären zu müssen, was immer wieder von ihm verlangt wurde.

1988 war wieder ein wichtiges Jahr in Rio Reisers Biographie. Anfang des Jahres erschien das Album "Sternschnuppen" seines Freundes & Lebenspartners Misha Schöneberg, das mit Rio als Produzent im Sommer 1986 und Herbst 1987 aufgenommen wurde, und in der "taz" schrieb ein Kritiker: "Wenn man ihn hört, weiß man, daß seine Küsse so schmecken, wie das Taj Mahal im Mondschein aussieht." Rio kommentierte diesen Satz mit einem erstaunten "Woher weiß der das?"

Am 27. Februar begann seine nächste Solo-Tour mit einem großartigen Konzert in Beverungen. Mit von der Partie waren wieder R.P.S. Lanrue an der Gitarre, Jochen Hansen am Bass und Toni Nissl hinterm Schlagzeug. Neu dabei waren Christian Schneider an den Keyboards und Manuel Lopez an der Gitarre, die beide von da an fest zur Crew gehörten.
Es gelang Rio Reiser, alte und neue Fans zu begeistern, auch wenn er nie bestimmte Songs spielte, nur um eine gewisse Erwartungshaltung im Publikum zu bedienen. So spielte er auch Stücke aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit, wie zum Beispiel "Ardistan", "La Reponse", "Der Turm stürzt ein", "Mole Hill Rockers" und "Irrenanstalt", ach Entschuldigung, früher hieß es ja "Kommen sie schnell (Hallo, Hallo)".
Daß Rio jene von Teilen des Publikums immer wieder lautstark geforderten Titel aus den frühen Siebzigern nicht mehr sang, wurde ihm oft gedankenlos vorgeworfen, doch größere Pöbeleien, "die zu Scherbenauftritten gehörten, wie Konfetti zu Karneval" (ein Beobachter), blieben aus.
Dabei hatte Rio nicht weniger Anpassungsschwierigkeiten mit seiner Umwelt. Rio war ja auch kein einfacher Mensch, er war eine schwierige, ja manchmal gespaltene Persönlichkeit, wobei Abhängigkeiten von Alkohol und Drogen keine unwesentliche Rolle spielten. Kompromißlos ging er mit sich und anderen Menschen um.
Auf der Bühne, das erlebte man gerade 1988, ging er bei jedem Konzert an seine physischen Grenzen. Rio gab alles, strahlte Stärke und Energie aus, war ganz Vollblutmusiker. "Die Songs tragen mich", sagte er einmal, "und auch das Publikum".
Rio Reisers Publikum war im Querschnitt genauso vielschichtig wie der Künstler selbst. Sie hatten es nicht leicht miteinander: Als Rio beim "Berliner Rock-Marathon" im Juni 1988 nur Songs von seinen Solo-Platten sang, forderten im Publikum Piratenflaggen schwenkende Menschen die alten Scherben-Klassiker. Klar, auch sie hatten Eintritt gezahlt. Als er aber drei Monate später bei einem Auftritt im Berliner Tempodrom eben jene Songs alleine am Klavier vortrug, wollte das überwiegend junge Publikum die neuen Songs hören. Rio suchte einen Ausweg und kündigte einen Titel an mit den Worten "Achtet auf die Message!" Wohl niemand im Saal rechnete mit dem deutschen Volkslied "Auf einem Baum ein Kuckuck saß", was die Zuhörerschaft vollends irritierte. Das Grinsen auf Rios Gesicht sagte mehr als Worte.

Eine nette Besonderheit bei Rios Publikum war die erstaunlich große Anzahl weiblicher Fans. Das ist vielleicht von daher verwunderlich, als daß Rio mehr auf Jungen stand und dies auch nie verschwiegen hatte. Er wurde dann als Vorzeigeschwuler herumgereicht, als ob er ständig ein Bekennerschild auf der Brust tragen würde. Dabei ist es im Grunde ganz schnöde, um mal ein Lieblingswort von Rio zu benutzen: Da ist ein Mann, der das Mädchen in sich zugelassen hat. Rio hatte weibliche und männliche Freunde, verstand sich auch mit Frauen gut, nur er ging halt nie mit einer ins Bett. Aus diesem Selbstverständnis heraus wirkte er vielleicht gerade auf Frauen anziehend. Hinzu kam sein lange Zeit jungenhaftes Aussehen. Die Intensität, mit der Rio Reiser seine Gefühle und seine Seele offenbarte, aber auch seine optische Zartheit und Zerbrechlichkeit, berührten denjenigen Menschen, der dies für sich zuließ, egal welchen Geschlechts und egal welcher Neigung.
Solche Menschen fanden sich dann auch am 2. Oktober 1988 in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle ein, wo Rio auf Einladung der FDJ und nach Aufhebung des Spielverbotes ein grandioses Konzert vor 6.000 DDR-Bürgern gab. Hier wurde er gefeiert, wie er es verdient hatte. Rio selber wollte immer auch als Solist Erfolg haben und sagte einem Freund gegenüber einmal: "Ich will endlich die Anerkennung, die mir zusteht!" Die bekam er bei jenem bedeutungsvollen Konzert, und man sah ihm die Freude an.
Eine krönende Anerkennung bekam er sogar von seinen Kollegen, die bei einer Umfrage der Zeitschrift "Music Express / Sounds" im Oktober 1988 Rio Reiser zum besten deutschen Texter wählten. Für ihn stimmten u. a. Ulla Meinecke, Wolfgang Niedecken, Herbert Grönemeyer, Klaus Lage und Wolf Maahn.
Im Rahmen der DDR-Veranstaltung lernte Rio dann auch den Ost-Berliner Musiker Lutz Kerschowski kennen, mit dem ihn von da an musikalische Kollegialität und Freundschaft verband. Ein Jahr später wurde dann die CD "Lutz Kerschowski & Blankenfelder Boogie-Band" in Rios Tonstudio in Fresenhagen (Nordfriesland) abgemischt.

"Ein Jahr später" hieß natürlich auch, eine Mauer weniger: 1989, das Jahr der deutschen Wende! Diese Begebenheit an sich fand Rio gut und spannend, aber nicht die Art und Weise der Entwicklung, schon gar nicht die "erzwungene Vereinigung", wie er es nannte. Er ärgerte sich, daß er nicht gefragt wurde, als Bürger dieses neuen großen Landes. Ihm grauste vor den Wendehälsen, vor den Westentaschenspielern und vor den Füchsen in ihren Mercedesen und BMWs, die er auf seinen Reisen durch die neuen Bundesländer sah. Aus Angst vor den gesellschaftlichen Folgen und als Flucht vor der unberechenbaren Lawine reiste Rio nach Rio, de Janeiro. "Freude an der Einheit haben nur die, die daran verdienen", sollte er vier freudlose Jahre später in einem heißen Disput mit Angela Merkel äußern.
1989 trat Rio Reiser auch erstmals als "Tatort"-Komponist auf, indem er für die Schimanski-Folge "Der Pott" den Song "Über Nacht" schrieb und auch kurz im Film vortragen durfte.

Sein wahres Format bewies er, indem er die Opernmusik zu der Unnaer Stadtoper "Wasser des Lebens" komponierte.

Im Jahr 1990 gab es dann endlich wieder eine neue Solo-Platte von Rio Reiser, die erstmals zeitgleich in Ost und West auf den Markt kam. Diesmal begann Rios (gewollte?) Auseinandersetzung mit Worten schon vor dem ersten Anhören. Wie hieß die Scheibe? Auf dem Cover stand oben "Rio", darunter "***" und ganz unten "Reiser". Bis heute nennt jeder die Platte anders: "Rio", "Sternchen", "Drei Sterne", "Rio Drei" und so weiter und so fort. Zum Glück war das Cover feuerrot, so daß man zur Not noch von "der Roten" sprechen konnte und verstanden wurde.

Neben der Besonderheit von ungewohnt synthetischen Klängen, fiel hier vor allem das Lied "Zauberland" auf, das vorschnell als "Wendelied" oder "Abgesang auf die DDR" betitelt wurde. Doch das war blanker Unsinn, hört man in diesem mit Rios geliebten traurigen Celli unterlegten Song ihn in außergewöhnlicher intensiver Melancholie den Verlust der Liebe und der Träume bedauern: Das Sänger-Ich sehnt sich nach dem einen Kuß, und wenn's der letzte wär. Der Text ist nicht von Rio selbst, sondern von Misha Schöneberg, der seit 1982 mit und für Rio schrieb und mit einem gewissen Stolz von sich behaupten kann, "Rio hat für viele SängerInnen in Deutschland geschrieben, aber nur ganz wenige haben für ihn geschrieben (eigentlich fällt mir nur Hannes Eyber noch ein.)" Rio hatte den Song, der seit einigen Jahren auf seine Veröffentlichung wartete, schon 1988 live gesungen. An der unsinnigen Deutung ist der Interpet selbst nicht schuldlos, ließ er doch - neben dem unglücklichen Erscheinungsjahr (1990) und seinem zeitgleichen demonstrativen PDS-Eintritt - obendrein noch ein Zauberland-Video zu, das Breshnew und Honecker im innigen Bruderkuß präsentierte.
Was bewog ihn, in diese Partei einzutreten? Nun, eine siebenstellige Geldsumme soll geflossen sein (ging damals durch die Medien, u.a. auch MTV), die mögliche Hauptmotivation schlechthin. Nach eigenen Angaben wollte er in erster Linie ein Signal setzen, auch weil er keine Lobby für die Ex-DDR-Bürger sah. Hinzu kam, daß er sich mit PDS-Chef Gregor Gysi auf menschlicher Ebene sehr gut verstand. Er lehnte sich dabei weit aus dem Fenster, und daß er bei Journalisten, Kollegen und Fans nur Unverständnis hervorrief, schien ihn nicht zu interessieren. Selbst sein Manager hatte ihn gewarnt, daß es sein Ende sein könnte. Es war nicht seine erste Warnung und sollte auch nicht die letzte sein.
Doch zurück zur Musik: "Zauberland" (6/90) war die zweite Single-Auskopplung aus diesem Album. Zuvor kam das viel einsetzbare und hitverdächtige "Geld" (3/90). Dies war wiedermal so ein direkt-ehrlicher Song mit reiserischem Zynismus und wohldosierter Ironie. Doch "Geld" brachte leider kein solches, auch der Erfolg blieb aus. Rio hatte bei dem Versuch, neuen musikalischen Wegen zu folgen, seine Linie verlassen und bekam die Kurve nicht. Die formatgesteuerten Medien katapultierten ihn aus der Bahn, there's no business like showbusiness.

Nicht zu mißachten ist der Umstand, daß man Rio schon Anfang der 1980er Jahre seinen Glücksbringer gestohlen hatte (ein mittelgroßer Plüschaffe, der immer einen Ehrenplatz auf der Bühne hatte) und ihn nun Ende der 1980er Jahre auch "sein menschlicher Glücksbringer" verlassen hatte, der aber vielmehr nach eigenen Angaben "ausgesetzt" wurde.
Im Sommer 1990 gab Rio ein Konzert in Stuttgart zum Abschluß des SDR-Konzertes "Top 2000 D". Seine Band bestand aus Holly Wagner (Bass), Lutz Kerschowski (Gitarre), Manuel Lopez (Gitarre), Volker Griepenstroh (Keyboards) und Toni Nissl (Schlagzeug), die auch alle bei dem roten Album mitgewirkt hatten.
Im selben Jahr bekam Rio Reiser den Fred-Jay-Preis für den besten deutschen Schlagertext, den er für Marianne Rosenberg geschrieben hatte. Schlager - das war auch so eine beliebte Kategorie, in die Rio, meist abwertend, gesteckt wurde. Er selber hatte damit gar nicht so viele Probleme, denn: "Wenn man mit einem Song den Nerv der Zeit trifft, dann ist das ein Schlager", sagte er im April 1990 in einem Interview bei "Rocklife" (WDR). Von daher war für ihn ein Scherben-Song á la "Macht kaputt, was Euch kaputt macht" genauso ein Schlager, wie eben ein Fred-Jay-Lied. Da aber der Begriff Schlager mit bestimmten Titeln und Namen belegt ist, nannte Rio seine sogenannten Schlager lieber Gassenhauer. Eigentlich war seine Musik nicht einzuordnen, aber es sollte schon populär sein, was er machte. Er selber hörte jede Art von Musik, ja, auch Schlager, notfalls zur Abgrenzung, um zu sehen, wie man es nicht macht, oder auch nur zum amüsieren.

1991 gab es dann ein neues Rio-Reiser-Album mit dem schlagkräftigen Titel "Durch die Wand", welches in Fan-Kreisen nicht zu seinen stärksten zählt. Dabei enthält es neben der ersten Single-Auskopplung "Jetzt schlägt's dreizehn" - übrigens ein Song von 1981 - die melancholischen Stücke "Zu Hause" und "Nach Hause". Die zweite Single aus diesem Album hieß "Nur Dich" und benutzte die Sprache in einer paradoxen Form.

Die Hervorhebung und Betonung der Texte tut Rio Reiser eigentlich Unrecht, denn Rio war ein durch und durch musikalischer Mensch, der nicht nur einfach Texte vertonte, sondern eigenständig komponierte. Das ist eben der Unterschied zwischen einem Songwriter und einem Liedermacher. Für Rio waren Musik und Text immer gleichwertig und gleich wichtig. Er hat kritische Themen der Zeit engagiert aufgenommen und in seine Form von Sprache und Musik umgesetzt. Rio Reiser war ein Gefühlsmensch, der Songtexte selten konstruiert hat. Oft waren es einfach Visionen von einem Lied, manchmal kamen Ideen plötzlich beim herumklimpern auf dem Klavier. Seine besten Stücke sind die, die er "schnell" geschrieben haben soll.
Nebenbei bemerkt war Rio ein sehr fleißiger Musiker, der viel geübt hat, oft stundenlang am Klavier saß und sich warm gesungen hat. Gerade am Klavier ist seine Musikalität nicht nur hörbar, sondern fast schon spürbar, und man versteht, was Wolfgang Michels meint, wenn er sagt "Rio war ein begnadeter Künstler." Und Hollow Skai schrieb in "Mare" (6/98) "Rio war ein begnadeter Songwriter." Begnadet, ja, aber im allgemeinen leider unterschätzt und verkannt, zumindest was den ausbleibenden materiellen Erfolg angeht, der einem durch großen Zulauf der breiten Masse widerfährt.

Was die Einzigartigkeit von Rio Reiser ausmacht, ist die Vereinigung vieler Fähigkeiten: Er war Texter, Komponist, Sänger und Instrumentalist (Cello, Klavier und Gitarre). Hinzu kamen persönliche Eigenheiten, wie seine Intensität und sein Charisma. Rios Persönlichkeit war aber auch geprägt von einer inneren Zerrissenheit (vielleicht vergleichbar mit Truman Capote, den man "Monster, das man liebte" nannte). Rio war oft unberechenbar, gespalten und launisch. Selbst engste Mitmenschen sahen ihn kritisch, denn auch sie hat er oft enttäuscht.
So schwierig er als Privatperson auch gewesen sein mag, als öffentlicher Künstler wollte und konnte Rio Reiser vor allem vermitteln, war ganz Überzeugungstäter, leider auch manchmal ein Opfer, das schuldig wurde. Oder anders ausgedrückt: "Wenn ein Hamletdarsteller die Bühne verläßt, wird ihm niemand übel nehmen, daß er im wirklichen Leben kein Hamlet ist." (Misha Schöneberg)

Rio Reisers musikalische Laufbahn begann wie anfänglich beschrieben unter dem Einfluß der Beatles, deren Musik er immer bei Arbeiten im Tonstudio hörte, und den Rolling Stones. Auch mochte er The Clash, die Beach Boys, und, nun ja, auch Hans Albers, doch vor allem die von ihm innig verehrte Marlene Dietrich. So breit wie sein musikalisches Interesse war auch sein eigenes Repertoire. In gleicher Weise war Rio Reiser seit frühester Jugend der Theater- und Kleinkunstszene verbunden.
So war es nur eine Frage der Zeit, bis er einen Auftritt im Hamburger "Schmidt-Theater" hatte, zumal er den Chef, Corny Littmann, seit Mitte der 1970er Jahre kannte. Ton Steine Scherben hatten mit dem Schwulen-Kabarett "Brühwarm" (Corny Littmann alias "Herr Schmidt", Ernst Reinhard alias "Lilo Wanders" und andere) zwei Platten gemacht, "Mannstoll" (1977) und "Entartet" (1978). Wahrer, warmer Männercharme ...
Im November 1991 trat Rio dann solo bei der "Schmidt-Mitternachtsshow" auf und sang alleine am Klavier "Halt Dich an Deiner Liebe fest". Zuvor hatte er für Marianne Rosenberg zwei schöne Liebeslieder geschrieben, die auf ihrem Album "Und Du kannst nichts dagegen tun", das im Oktober 1991 erschien, zu hören sind.

1992 war kein so gutes Jahr für Rio: Gesundheitlich schlug es ihn nieder, was genau "es" war, entzieht sich meiner Kenntnis, spielt aber auch keine Rolle. Der Ärger über die Wiedervereinigung war ihm wohl dermaßen auf den Magen geschlagen, daß nur noch ein Aufenthalt in der Schloßpark-Klinik in Berlin-Charlottenburg half. Die Presse stürzte sich wie ein hungriger Geier auf ein scheinbar halbtotes Opfer. Tja, Show ohne Biz gibt es nicht, berühmt sein ohne Presse auch nicht, das wußte Rio.

Er wußte auch sehr wohl, daß er schwerkrank war, die Leber hinüber. Fachärzte sagten ihm, daß er keinen Alkohol mehr trinken und sich nicht anstrengen dürfte. Rio ging zu Heilpraktikern und trank Kräutertee. Er alterte im Gesicht um Jahre, und die Haare gingen ihm aus.
Er hat sich nie geschont, in keiner Beziehung: In dem Theaterstück "Ein ungelegener Besuch", das am 6. September 1992 im Berliner Renaissance-Theater Premiere hatte, spielte Rio Reiser die Hauptrolle.
Im Dezember trat Rio bei dem antifaschistischen Benefiz-Konzert "Heute die - Morgen Du" in Frankfurt am Main auf. Zusammen mit Ulla Meinecke sang er das kurzfristig entstandene Lied "13. Dezember", wobei Ulla den Text und Rio die Musik geschrieben hatte. Diese Zusammenarbeit war nicht neu, schon 1988 hatten die beiden für ein Album von Ulla Meinecke zusammen Stücke geschrieben. Einen zweiten Auftritt bei diesem Konzert bestritt Rio mit Marianne Rosenberg, ebenfalls keine Neuheit. Sie sangen den Scherben-Klassiker "Der Traum ist aus". Dies ist ja eins von den Liedern aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit, die Rio auch bei Solo-Konzerten immer wieder gerne sang, weil er nach wie vor dazu stand. Andere Titel waren "Land in Sicht" und "Halt Dich an Deiner Liebe fest".
Die Teilnahme an diesem Konzert kommentierten viele Schreiberlinge mit Erstaunen: Ach gugge ma, der Rio engagiert sich widder mal politisch, hieß es da sinngemäß. Rio war immer ein politischer Mensch, nur was früher von Medien und Publikum überbewertet wurde, wurde nun unterbewertet. Rio konnte es nie jemanden Recht machen, und wer will es ihm dann verübeln, daß er Solidaritätsveranstaltungen und politische Arbeit nicht sonderlich mochte.
Rio Reiser war vor allem ein unorthodoxer Christ, der jeden Tag in der Bibel las (ein Kapitel aus dem alten und eins aus dem neuen Testament), aber nichts von der Institution Kirche hielt. Er setzte sich mit dem Christentum auseinander, um es zu verstehen, und er setzte sich gleichermaßen mit allen Weltreligionen zwischen Orient und Okzident auseinander, so wie er es bei Karl May immer bewundert hatte. Mit zehn Jahren hatte Rio die Bibel mit all ihren Widersprüchen für sich entdeckt und seit dem ständig die Konfrontation mit dem wahren (un)christlichen Leben gesucht. So hat er die Bibel auch immer als Inspiration genutzt, nicht zuletzt für Songtexte. Die zehn Gebote fand er gar nicht mal so schlecht.

Als 1993 Rio Reisers neue Platte "Über alles" erschien, war weder sie, noch die Singles "Nimmst Du mich mit" (10/93) und das entfesselte "Inazitti" (2/94) in den Medien irgendwie präsent.

Fernseh- und Radiostationen boykottierten ihn wegen der PDS-Geschichte. Zu widersprüchlich war es, daß ein Linker, der all die Jahre gegen Unterdrücker und Ausbeuter angesungen hatte, ein Anarcho-Barde und Freiheitskämpfer war, sich nun einer Nachfolgepartei der SED anschloß. Da halfen erst recht nicht Rios Rechtfertigungsversuche, daß die PDS immerhin die Verantwortung für die letzten 40 Jahre übernommen hätte.
Verantwortung übernahm Rio 1993 dergestalt, daß er wieder Texte für andere Interpreten schrieb, diesmal für Kalle Krawinkel, Ex-Gitarrist der NDW-Truppe "Trio". Für dessen Album "Kralle" hatte Rio Texte, die Kalle in Englisch geschrieben hatte, ins Deutsche zurückübersetzt.
Im November 1993 war Rio Reiser zu Gast bei Alfred Bioleks "Boulevard Bio" zum Thema "Mein ärgerliches Vaterland". Es ging um Rios Rolle als "Nestbeschmutzer", wobei sich Rio manchmal vorkam wie Goethes "Zauberlehrling", ganz nach dem Motto "Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los." Die "Verräter!"-Rufe der alten und neuen Ideologen, die ihm freundliche Lieder ohne Wut vorwarfen und ihm den kommerziellen Erfolg übel nahmen, waren indes nicht neu. Sie begleiteten Rio von der ersten bis zu letzten Platte genauso treu wie der bundesdeutsche Geheimdienst. Sein Kommentar dazu: "Die Leute denken, daß ich immer nur auf's Geld schiele. Die sollten mal meinen Kontoauszug sehen."Ob Rio für seinen Auftritt bei der "Schmidt-Mitternachtsshow" am 4. Dezember 1993 im Schmidt-Theater Geld bekam, weiß ich nicht, aber er bekam die Gelegenheit zu einer außergewöhnlichen Begegnung: Frau Marlene Jaschke sang voller Hingabe das Lied "Vier Wände" von Rios 1990er LP. Nach ein paar Sekunden trat Rio barfüßig hinzu und stimmte mit ein. Was für ein Duett! Rio bedankte sich mit einem Handkuß bei seiner Partnerin und sang dann, begleitet von Volker Griepenstroh am Piano, "Für immer und Dich".

1994 wurde das Jahr der Bilanzen, also rein musikalisch und biographisch. Im März erschien eine aktualisierte Fassung seines Hits "König von Deutschland". Kohl gab`s noch immer, aber Birgit Breuels Treuhand war nun angesagter als Ronald Reagans Wade und Hans Meiser lebendiger als Robert Lemke. Bei der Bundeswehr gab es nun Hanfgranaten statt Hitparaden und die gewechselten Socken wichen den gebadeten Prinzen. Der alte Hit wurde kein neuer - andere Zeiten, andere Lieder.

Dennoch gab es im April eine "Best-of"-CD, die allerdings genauso wenig Aufsehen erregte.

Anders war es bei der Autobiographie von Rio Reiser, die 1994 erschien. Sie trug den unglücklichen Titel "König von Deutschland - Von Ton Steine Scherben bis in die Hitparaden". Der Inhalt des Buches relativierte dann aber doch die äußere Hülle. Man hatte den Eindruck, und so kam sich Rio auch vor, wie er später gestand (am 28.4.1995 in der NDR-Talkshow), "als ob Oppa vom Krieg erzählt". Ferner wollte Rio "etwas zur Erbauung der Jugend beitragen". Rio Reiser und Co-Autor Hannes Eyber (früher Co-Produzent von Ton Steine Scherben) beschrieben die ersten 25 Lebensjahre eines Protagonisten, den man auf rund 300 Seiten kennenlernt und einfach gern haben muß. Das ganze ist stilistisch wunderbar ehrlich, pointenreich, detailverliebt und lebendig, immer verbunden mit Sprachwitz und Charme. Dabei wird nicht nur eine Künstlerbiographie geschrieben, sondern vor allem auch seine nicht unwesentliche Umwelt beschrieben. Man erfährt fast nebenbei sehr viel über Deutschland, Berlin und Kreuzberg, über Kunst, Kommune und Küchengespräche, natürlich auch über Mitmenschen, zwischenmenschliches und allzumenschliches. Leider endet das Buch mit dem Umzug von Berlin nach Fresenhagen im Sommer 1975. Der Sprung in die Hitparaden wird nur ganz am Ende in einer Art Zukunftsvision angedeutet.

Und wer nun immer noch wissen will, worum es in dem Buch geht, der halte sich an Thomas Koschwitz, der Rio in seiner "RTL-Nachtshow" 1994 zum dritten mal fragte: "Was erwartet mich denn nun in dem Buch?", und eine Reiser-typische Antwort bekam: "Na Buchstaben!" Haben wir gelacht ...
Daß die Autobiographie nicht ganz zu Rios Zufriedenheit ausfiel, lag nicht zuletzt an ihm selber: Ihn nervten die Vorschriften des Verlages so sehr, daß er kurzerhand nach Thailand abhaute und die Schlußverhandlungen Hannes Eyber überließ. Als Rio zurückkam, paßte ihm das Endergebnis überhaupt nicht.
Jedenfalls verkaufte sich das Buch recht gut, sowohl in den Läden als auch in den Medien, und Rio ging auf Lese-Tournee. Daß er dabei nicht immer auf aufmerksames Publikum stieß, zeigte die Frage einer Zuhörerin nach einer Lesung: "Hast Du eigentlich Kinder?"
1994 war Rio noch an einem Boxer-Musical beteiligt, daß Armin Petras und Philipp Stölzl nach Ödön von Horvarth geschrieben hatten. "Knock out Deutschland" wurde zwar nicht wie geplant im Vorprogramm eines Boxkampfes von Henry Maske gezeigt, aber dafür in angenehmerer Atmosphäre im Schauspielhaus Chemnitz.

Im März 1995 erschien die Rio-Reiser-CD "Himmel & Hölle" mit elf neuen Liedern, die jedes für sich eine Geschichte aus seinem Leben erzählten, denn sie zeigten die Einflüsse aus Theater, Film, Rockmusik, Politik und Märchen.

Die musikalische Vielseitigkeit machte das Album zu Rios komplexesten Werk. Dies befand auch das Musikmagazin "Rolling Stone" im Mai 1995 und nannte es "Reisers bislang bestes Solo-Album". Weiter schrieb Hollow Skai: "Niemand in Deutschland schreibt so wahre, aufrichtig-radikale und nachzuempfindende Texte wie dieser melancholische Spielmann des auslaufenden 20. Jahrhunderts."
Den Grundstein der CD bildete der Song "Irrlicht", eine rundum kraftvolle Komposition mit herrlich kraftvollem Gesang. Drei Stücke "entlieh" sich Rio bei sich selber, er hatte sie für das Musical "Die Braut der Brüder" seines Bruders Peter Möbius geschrieben und nun selbst gesungen, allerdings dermaßen gefühlsecht, wie es kein zweiter singen kann. Das trifft eigentlich auf alle Songs dieser Platte zu, besonders auch bei "Träume", der Titelsong des Tatorts "Im Herzen Eiszeit", der am 2. April 1995 erstmals ausgestrahlt wurde, mit Rio Reiser in der Hauptrolle.
Wie schon in seinen sechs Filme zuvor, gab er auch hier viel von sich selbst und spielte alle Mit-Darsteller an die Wand. Er war ein guter Schauspieler. Nicht umsonst bekam er für seine erste Hauptrolle in dem Roadie-Movie "Johnny West" 1977 den Bundesfilmpreis in Gold, was damals vor allem den Gerichtsvollzieher erfreute.
Wie ein kleines Drehbuch wirkte auch der Song "Straße", die einzige Single-Auskopplung (2/95) aus "Himmel & Hölle". Hier beschreibt Rio die Situation des Verlassenwerdens. Manche Menschen sagen ja "Ich geh' mal eben Zigaretten holen" und kommen nie wieder. Rios damaliger Lebenspartner Niels sagte "Ich bring' mal eben Lutz zum Bahnhof" und ward nicht mehr gesehen.

Rio hat so oft Situationen beschrieben, die jeder von uns kennt, Themen, die jedem oft genug begegnen, und sein Anliegen war es dabei, Licht ins Dunkel zu bringen, "den Leuten, die meine Musik hören, die Stimmung zu heben, so daß sie wieder was tun können." In einem Radio-Interview für "Rock et cetera" (Deutschlandfunk) am 24. Juli 1995 erklärte es Rio dann so: "Wenn jemand den Song hört, dann muß er ja mit dem Song was anfangen können. Er soll den ja benutzen, er soll ihn umsetzen." Befragt nach seiner Glaubwürdigkeit sagte Rio an gleicher Stelle: "Die Leute sollen nicht mir glauben, sondern sich selbst glauben. Ich kann viel erzählen. Warum soll man mir glauben? Wer will's denn überprüfen? Also: Zweifel an allem!" Ein paar Sätze weiter fügte er hinzu: "Um zu überprüfen, was für ein Typ ich bin und wie echt ich bin, da muß man mich schon gut kennen."
Selbst die, die ihn gut kannten und sich Sorgen machten, wagten trotz besseren Wissens nicht daran zu denken, wie nah Rio Reiser Himmel und Hölle schon damals war. Bedingt durch Alkohol, Psycho-Terror von Rechtsradikalen und der Sekte "Kinder Gottes", von der er sich verfolgt fühlte, wurde er immer depressiver, und langsam verlor er den Kampf gegen den Terror aus der Psyche seiner selbst.
Noch nie ganz frei von Todessehnsüchten, wirkten viele seiner letzten Lieder wie Todesahnungen oder Visionen, als ob er wußte, was kommen würde und wie falsch Freunde sein können.
Rios Leber war kaputt, jedes Glas konnte das letzte sein, denn Jahre zuvor fiel er schon mal in ein unheilvolles Koma - hatte ihm ein Barkeeper in Florida K.O.-Tropfen in den einen Tequila getan? (oder war's ein Räuber in New York?) - , doch Rio hörte nicht auf die Ärzte, sondern flüchtete und schaute weiterhin zu oft zu tief ins Glas. "Ich habe alles ausprobiert, aber die beste Wirkung habe ich noch mit Alkohol", sagte er einmal einem Freund.

Für die ARD-Krimiserie "Die Gang" spielte Rio Reiser 1996 in der Folge "Liebeslied für eine Leiche" den paedophilen Popstar Kevin Kaiser, kein filmisches Glanzlicht allerdings.
Glanzlichter standen eher in den Augen von Uwe Ochsenknecht, dem Hauptdarsteller der "Gang"-Serie, als er während der Dreharbeiten mit Rio über Musik plauderte. Ochsenknecht brauchte für sein Album "O-Töne" noch einen Song und da kam ihm die Idee - "Wenn der Meister einem schon mal gegenüber sitzt" (U.O.) - Rio zu fragen. Wenige Wochen später erhielt der singende Schauspieler einen Songtext, den er unverändert übernahm.
Gegen jeden gut gemeinten Rat begab Rio sich im Mai '96 auf Deutschland-Tour. Doch dieser Kraftakt, todkrank auf Tour zu gehen, war zuviel für Rios ausgemergelten Körper, er mußte die Tour am 24. Mai abbrechen, ausgerechnet einen Tag vor dem Berliner Konzert, wo seine größte Fangemeinde auf ihn wartete.
Wer weiß, mit welcher Energie und Leidenschaft Rio Reiser auf der Bühne arbeitete, der mag nachvollziehen können, daß so ein Feuer irgendwann ausgebrannt ist. "Irgendwann" war ein heißer Augusttag, der 20. August 1996 - Kreislaufzusammenbruch, innere Blutungen. Ende. "Unser Verlust ist Gottes Gewinn" heißt es, aber mußte es verdammt noch mal so früh sein und gleich so endgültig?
Viele Fragen standen im Raum und viele Nachrufe im Blätterwald, untersetzt von Heuchlern erster Güte, aber auch subtileren Stimmen: "Mit Rio Reiser ging auch die Illusion von der subversiven Kraft der Musik", schrieb Hollow Skai im "Rolling Stone" (10/96). Blixa Bargeld, der Sänger der Einstürzenden Neubauten, formulierte es im "Spiegel" (35/96) nicht minder wahr: "Ich habe noch nie jemanden in Deutschland singen gehört oder gesehen, der wie Rio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime Beziehung, geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen seiner Zuhörer aufzubauen." - "Rio Reiser strahlte Kraft und Macht aus, die er vom Publikum bekam, und er gab sie wieder zurück."

Rio Reiser wurde in Fresenhagen begraben, wo er zwanzig Jahre lang gelebt hat und sich immerhin so wohlgefühlt haben muß, daß er einmal den Wunsch äußerte, dort, unter dem Apfelbaum, den er von seinem Zimmer aus sehen konnte, seine letzte Ruhe zu finden. Seine Familie und Freunde erfüllten ihm den Wunsch und kümmerten sich anschließend um sein Erbe, das weniger materiell war, sondern in geistiger, kreativer und künstlerischer Form vorlag.
Im Oktober 1996 wurde der Verein "Rio-Reiser-Haus e.V." gegründet, wo Rios Nachlaß fürsorglich und akribisch gesichtet wird, um ihn der Nachwelt zu erhalten.
Doch zuvor gab es am 1. September 1996 einen "Abschied von Rio" in Form eines Konzertes im Berliner Tempodrom. Einen Abend lang war es noch einmal Rios Bühne, auf der junge und alte Kollegen aus Ost und West auf unterschiedlichste Art Abschied nahmen und noch einmal an den großen Künstler erinnerten. An die 10.000 Fans aus ganz Deutschland und darüber hinaus kamen, und einer schrieb hinterher in einem Leserbrief, für ihn sei Rio Reiser "der sensibelste, zerrissenste, menschlichste, eigensinnigste, inspirierendste und konsequenteste Poet unserer Gegenwart".

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht als Beweis die im Oktober 1998 erschienene CD "Rio Reiser am Piano I" aus dem Rio-Reiser-Archiv mit 18 bisher unveröffentlichten Liedern aus dem Nachlaß. Rios Stimme und das Klavier, purer kann Musik nicht sein. Die Musik und die Sprache Rio Reisers werden bleiben.

An seinem letzten Tag auf dieser Erde war seine Bibel auf der Seite Sirach 37 aufgeschlagen: "Die Wurzel der Pläne ist das Herz. Vier Reiser wachsen daraus hervor: Gutes und Böses, Leben und Tod. Doch die Zunge hat Gewalt über sie alle."

Wie aktuell Rio Reiser und Ton Steine Scherben gerade in dieser Zeit sind, belegen einige Veröffentlichungen, sie bereits erschienen oder geplant sind: Im November 1998 erschien auf der CD-ROM von "German Rock e.V." weltexklusiv (!) ein Auszug des Titels "Herz verloren", den Rio 1985 für Wolfgang Michels getextet und in dieser Demo-Version einmalig selbst gesungen hatte. Es ist angedacht und erwünscht, diesen Track einmal "offiziell" zu veröffentlichen. Im Februar 1999 erschien auf der CD-ROM des Musikmagazins "Musikexpress/Sounds" eine 7-Minuten-Version des Scherben-Songs "Ardistan", neu aufgenommen von "Zeit-Reiser" alias Dirk Schlömer (Ex-Scherbe) als Sitara-Mix. Die Version ist drei Jahre alt, und Rio soll sie sogar noch gehört haben. Geplant ist ein Sampler mit diversen, sehr unterschiedlichen Remixes dieses Songs. Rio hatte zu Lebzeiten seine Rechte an "Ardistan" an Dirk Schlömer abgetreten. Im April 1999 soll die CD "Am Piano II" erscheinen, also die Fortsetzung von "Am Piano I". Man darf gespannt sein ... In Arbeit ist eine CD mit dem Titel "Die Nachtfalter - Träume, Tod, Erinnerung" mit Musik von Kai Sichtermann und Martin Paul als Produzent - beide ihres Zeichens langjährige Mitglieder von Ton Steine Scherben. Sie enthält überwiegend aufbereitetes Material dieser Band, sowie zwei Texte von Misha Schöneberg. Ferner plant das Label Telefunken, eine CD des Scherben-Samplers "Auswahl I 1970-1980" herauszubringen.Mein aufrichtiger Dank gilt ...Kurt Mitzkatis, daß er mir den Anlaß und die Kraft gegeben hat, diesen Artikel überhaupt zu schreiben,Wolfgang Michels für wunderschöne Telefongespräche voller Informationen, Impressionen und i-Tüpfel,Misha Schöneberg, daß er mich ein Stück auf dem Weg zur Sprach- und Wahrheitsfindung begleitet hat,Peter und Gert Möbius für ihr Vertrauen,Tanja Blum und Friedhelm Schäfer, daß sie mich mit unentbehrlicher Hilfe bei der Recherchearbeit undmit konstruktiver Kritik unterstützt haben.

Ihr alle seid ganz wunderbare Menschen!

[Regina Sommerfeld für German Rock News 7, 1999]

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